Falschinformationen über das Referendum zur hessischen Verfassung


Bekannte haben mir heute davon berichtet, dass ein Video auf einer großen Videoplattform im Internet die Runde macht, dessen Autor sich darin über das Verfassungsreferendum auslässt, das nächste Woche zusammen mit der Landtagswahl in Hessen stattfindet.

Ich habe nicht vor, dieses Video zu verlinken, um dem Unsinn nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu verleihen. Der Kanal gehört einem „Kai“ aus der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover, der dem Anschein nach selbst in die Kamera spricht. Wer es genau wissen will, sollte damit genügend Hinweise erhalten haben, um sich selbst ein Bild machen zu können.

Er scheint die Unterlagen erhalten zu haben, die per Postwurf jedem hessischen Stimmberechtigten zukamen: eine ausführliche Erklärung aller Initiativen, die auch als Webseite angeboten wird, sowie ein Muster des Wahlbogens, der am Sonntag zum Einsatz kommen soll. Die Erklärungen lese kaum einer, und deshalb fordert er, dass der Wahlbogen an sich die vollständigen Änderungen aufzuführen habe, statt bloß die Titel der Gesetze zu nennen, die die Verfassungsänderungen beschlossen haben (und nun von der hessischen Bevölkerung bestätigt werden müssen, um Gültigkeit zu erlangen).

Als ob Leute, die 2-3 Wochen Zeit haben, in Ruhe auf ihrem Sofa eine Broschüre in Großdruck durchzulesen und es nicht tun, das dann in der schlecht beleuchteten Wahlkabine ohne Sitzgelegenheit nachholen würden…

Auf Basis seiner Unzufriedenheit arbeitet er sich an einer Auswahl von Initiativen (es sind insgesamt 15) ab, mit Argumentationen, die mir teilweise nur durch Verachtung unseres Staatsgefüges seinerseits, teilweise auch durch Unkenntnis des deutschen Rechts erklärbar sind. Die Nummern und Titel sind der o.g. Webseite entnommen. Lücken in der Nummerierung erklären sich daraus, dass der Videoblogger nicht zu allem was zu sagen hatte.

Entscheidung 1: Gleichberechtigung in die Verfassung

Er behauptet, es würden in „direkter Folge“ Quoten eingeführt. Das ist, wenn man die bisherige Gesetzgebung betrachtet, auch ohne diese Änderung bereits problemlos möglich.

Die Formulierung ist, dass ist dem Informationsheft auch zu entnehmen, dem Grundgesetz der BRD entnommen und soll da einen Abgleich vornehmen.

Über den Sinn oder Unsinn einer expliziten Nennung von Männern und Frauen direkt nach dem Satz, der Diskriminierung u.A. wegen Geschlechts verbietet, kann man streiten. Jener Teil der Genderbewegung, der mehr als 2 Geschlechter postuliert, sollte mit dem Passus z.B. große Probleme haben.

Entscheidung 2: Kinderrechte in die Verfassung

Der Videoblogger behauptet, mit Kinderrechten wäre gemeint, dass die Eltern zugunsten von Behörden entmachtet werden sollen.

Ganz allgemein geht es darum, wie das Spannungsfeld Eltern, Kind und Staat bei Interventionen des Staats gestaltet werden soll – das gibt es ja auch schon jetzt. Die Änderung besagt, dass das Kind explizit und im Rahmen seiner Fähigkeiten seine Interessen äußern können soll und diese Interessen dann Berücksichtigung finden müssen. Wenn überhaupt, entmachtet diese Initiative Behörden zugunsten des Kindes.

Entscheidung 4: Todesstrafe aus der Verfassung

Die Streichung des Artikels führt der Videoblogger auf „den Genozid an den Deutschen in den letzten Jahren“ zurück, für den die derzeit verantwortlichen Politiker nicht haftbar gemacht werden wollen.

Der Erhalt von Art 21 Abs 1 Satz 2, der die Todesstrafe derzeit vorsieht, würde nichts ändern, solange die Landesverfassung durch das Grundgesetz in ihre Schranken verwiesen wird: Der Grund, weswegen in Hessen keine Todesstrafe herrscht ist nämlich nicht, dass die Politik sich halt entschieden hat, sie nicht für Mord u.dgl. anzuwenden, sondern nur für Völkermord (so stellt er es dar), sondern dass sie durch das Grundgesetz verboten ist, das als Bundesrecht Landesrecht (inklusive Landesverfassung) bricht.

Seine theoretischen Überlegungen machen also nur Sinn, wenn man das Grundgesetz als nicht wirksam betrachtet. Kann man machen, man befindet sich dann aber nicht mehr wirklich auf konsensfähigem Terrain, was die freiheitlich demokratische Grundordnung in Deutschland angeht. Ich empfehle bei einer solchen Einstellung die Anschaffung eines Reichsbürgerpasses…

Entscheidung 5: Staatszieldefinition in die Verfassung

Seine Theorie ist, dass die „natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen“, die nach Art 24 unter dem „Schutz des Staates“ stehen, entwertet werden sollen, indem man ihnen eine Prämbel verleiht, dass dieser Schutz durch den Staat „Staatsziel“ sei.

Seine Theorie ist weiterhin, dass diese Lebensgrundlagen bedeuten, man könne sich seinen Acker kaufen und darauf dann völlig autark leben. Ich hoffe, er hat keinen Acker in Hessen (er lebt ja scheinbar in Hannover), sonst wird es beim nächsten Einzug der Grundsteuer einigen Ärger geben.

Entscheidung 6: Nachhaltigkeit in die Verfassung

Seine Interpretation ist im Wesentlichen: „Wir sollen ohne Kohle, Gas, Benzin, Diesel und Atomstrom leben, und wer fährt denn dann noch Auto?“ Eine reductio ad absurdum, aber nicht von mir.

Entscheidung 11: Bekenntnis zu Europa in die Verfassung

Er behauptet, „Hessen ist ein Glied der deutschen Republik“ würde gestrichen und das sei alles ein Plan, die Bundesrepublik aufzulösen zugunsten einer EU-Diktatur.

Gut, die Formulierung hat sich etwas geändert: „Hessen ist ein Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland und als solcher Teil der Europäischen Union“ (was faktisch richtig ist, und falls die BRD irgendwann kein Teil der EU mehr sein sollte, hat sich der zweite Teil des Satzes automatisch erledigt)

Hintergrund der Änderung im ersten Satzteil ist wohl eher, dass es bei Verabschiedung der hessischen Landesverfassung keine Bundesrepublik Deutschland gab (daher „deutsche Republik“) und auch noch nicht klar war, dass sie in „Bundesstaaten“ gegliedert wird (daher „ein Glied“ statt „ein Gliedstaat“). Geschichte und Heimatkunde: 5-

Entscheidung 13: Digitale Gesetzesverkündung in die Verfassung

Seine Argumentation ist, wenn das Gesetz- und Verordnungsblatt nur einmal im Quartal veröffentlicht wird, haben neue Gesetze ein (im Schnitt) halbes Quartal + 14 Tage, bis sie gültig werden, und das sei dem Polizeistaat ein Dorn im Auge.

In der Praxis sieht es so aus, dass das Gesetz- und Verordnungsblatt ungefähr alle 2 Wochen herauskommt, die derzeit letzten beiden Ausgaben waren vom 15.10.2018 und 26.9.2018. Wie es auf der Webseite aussieht, sind bis zu 32 Ausgaben im Jahr geplant, die beiden genannten Ausgaben sind Nr. 22 und Nr. 23.

Wenn also ein „kontroverses“ Gesetz durchgeschleust werden soll, müsste man die Abstimmung lediglich auf den Tag vor der nächsten Veröffentlichung ansetzen (das letzte Mal wäre das der 14.10. gewesen) und hätte auch nur 14 Tage Zeit, um gegen das Gesetz – ja, was eigentlich zu machen? Beschlossen ist es ja schon…

Die einzige Änderung ist, dass wir nicht mehr soviele Bäume fällen müssen für etwas, das eh alle nur noch online einsehen (zB auf der Webseite, die ich oben verwendet habe).

Entscheidung 14: Direkte Demokratie in die Verfassung

Hier ist der Titel auf der Webseite etwas irreführend: Es geht nicht darum, direkte Demokratie einzuführen, sondern (so der Wortlaut des Gesetzes) zu stärken.

Dazu werden die Kriterien für Volksentscheide geändert: Derzeit muss man, um überhaupt einen Volksentscheid durchzuführen, 20% der Stimmberechtigten überzeugt haben, dass man darüber abstimmen soll. Bei der Wahl selbst reicht dann die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen.

Die Änderung besagt, dass 5% der Stimmberechtigten notwendig sein sollen, um ein Thema zur Abstimmung zu bringen, aber dann mindestens 25% der Stimmberechtigten dafür sein muss (und auch weiterhin eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen bilden müssen), damit der Volksentscheid erfolgreich ist.

Um das ganze greifbarer zu machen: Laut Landesamt für Statistik haben wir 2018 knapp 4,4 Millionen Wahlberechtigte in Hessen, 20% wären 880.000, 5% wären 220.000.

Das heißt: Es wird deutlich wahrscheinlicher, dass ein Thema zur Wahl kommt (220.000 sind theoretisch allein in einer einzigen hessischen Großstadt machbar), aber die Hürde, um es dann durchzubringen, ist höher: Es reicht nicht, dass (bei historisch niedriger Wahlbeteiligung) 5 von 10 Wählern dafür sind, die Wahlbeteiligung muss bei über 50% liegen und immer noch eine Mehrheit dafür sein.

Nehmen wir an, Frankfurter organisieren eine Volksabstimmung, dass Frankfurt in Zukunft Landeshauptstadt sein soll. Wiesbaden ist (natürlich) dagegen, dem Rest des Landes ist es egal. Nach altem Recht hätte Frankfurt nicht genügend Stimmen, um die Frage dem Volk überhaupt vorzulegen. Nach neuem Recht könnten sie es vorlegen, und würden (in einer Wahl „Frankfurt gegen Wiesbaden“) auch gewinnen, aber hätten immer noch nicht genug Stimmen für eine Entscheidung weil sich der Rest enthält.

Man kann hier verschiedener Ansicht sein, aber die Annahme, das sei alles nur ein Mittel der herrschenden Klasse, um das Volk zu unterjochen, ist doch ein wenig weit hergeholt.

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